Cover
Titel
Futures.


Herausgeber
Kemp, Sandra; Andersson, Jenny
Reihe
Oxford Twenty-First Century Approaches to Literature
Erschienen
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
€ 115,65
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Kirstin Jorns, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich; Lukas Doil, Abt. IV: Regime des Sozialen, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Zukunft boomt. Kaum eine öffentliche Debatte, so scheint es, kommt ohne den ständigen Bezug auf die zu erhaltende, zu gestaltende oder die drohende Zukunft aus. Auch die Geschichtswissenschaften können auf eine mittlerweile ausgedehnte Beschäftigung mit den „vergangenen Zukünften“ (Reinhart Koselleck) zurückblicken, wobei sich das fachliche Interesse an Zukünften in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich verdichtet hat.1 Ein guter Indikator für die Etablierung eines Forschungsfeldes ist wohl das Erscheinen von handbuchartigen Schriften, die Überblick verschaffen und Desiderate vermessen. Der hier besprochene, beinahe 560 Seiten umfassende Sammelband von Jenny Andersson und Sandra Kemp fällt deutlich in diese Kategorie. Die Editorinnen haben es sich hierbei zur Aufgabe gemacht, „Futures“ als Gegenstand der Literatur- und Kulturwissenschaften in den Blick zu nehmen. Zurecht heben sie in der Einleitung auf die Historizität, die Pluralität und den Diskurscharakter von Zukunft ab. Zukünfte sind gebunden an Akteursgruppen und Gesellschaften, an Materialität und Medialität und bleiben situiert in historischen und lokalen Kontexten, aus denen sie generiert werden. Zukunft ist epistemisch weitestgehend offen, lässt sich aber durch Praktiken der „Schließung“ (Niklas Luhmann) vorwegnehmen oder gestalten. Die Herausgeberinnen plädieren für einen globalen Blick auf die Praktiken des „future-making“ (S. 6), auf Repräsentationen und vor allem auf die darin geronnene Macht, etwa in Form von hegemonialen Erzählungen oder als Gegenstand sozialer Kämpfe. In fünf thematisch recht grob getrennten Abschnitten sind ganze dreißig internationale Beiträge versammelt. Fokussiert werden im Folgenden solche, die in den Augen der beiden Rezensent:innen neue Ein- oder gelungene Überblicke bieten.

Jenny Andersson eröffnet den ersten Teil über „Future Histories“ mit einem Parforceritt durch den Zukunftsdiskurs der 1950er- bis 1970er-Jahre. Am Beispiel eines Brettspieles der RAND Corporation führt sie in die Gamifizierung von Zukunftsprognosen ein. Andersson macht deutlich, wie sehr jene „predictive technologies“ (S. 23) in imperiale Vorstellungen, westliche Diskurse und kapitalistische Logiken von Verwertung und Kreativität eingebettet waren und wie sich in den 1970er-Jahren anhand solcher Tools der Übergang von linearer Prognose zu pluralen „Szenarien“ verschob. Rodney Harrison stellt in seinem Beitrag das „biobanking“ von Samenarten in der norwegischen Svalbard Global Seed Vault als erhaltende Zukunftspraxis vor. Harrison betont, dass die Einfrierung von Samen ab den 1960er-Jahren zu einem weltpolitischen Projekt wurde, als sich agrarkapitalistische Monokultur und bestimmte Hochleistungssamen – und damit eine in Kauf genommene Zerstörung der Biodiversität – durchgesetzt hatten. Mat Paskins argumentiert in seinem Aufsatz für die stärkere Einbeziehung populärer Printmedien des 20. Jahrhunderts als Seismografen für die Reichweite von Zukunftsdiskursen in der Öffentlichkeit. Am Beispiel der amerikanischen Zeitschriften aus Henry Luce‘ Medienimperium (TIME, Life, Fortune) weist er die anhaltende Präsenz von Zukunftsforschung nach, die so einerseits kommerzialisiert und verkürzt wurde, aber auch zum kosmopolitischen und trendbewussten Anstrich der Magazine betrug. Im letzten Beitrag des Abschnitts rekonstruiert Laura Wittmann per Close-Reading den Anarchismus des Futuristen Filippo Marinetti. Die Massengewalt des Ersten Weltkrieges interpretiert sie dabei als Auflösung von historischen Zeitläuften und Biografien. Mit- Rückgriff auf Hans Ulrich Gumbrecht erkennt sie bei Marinetti eine trauma-induzierte, explosive Gegenwart, deren eigenwillige Zeit- und Geschichtslosigkeit einen disruptiven Raum öffnet für eine faschistische Umgestaltung der Gesellschaft.

Teil zwei versammelt unter dem Titel „Knowing the Future“ sechs Beiträge, welche die Ontologie, Epistemologie und Repräsentation von Zukunft sowie deren Wirkung aus sozialwissenschaftlicher Warte problematisieren. Speziell in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht erhellend erscheint dabei Barbara Adams Beitrag. Hierin stellt sie im Gespräch mit den Herausgeberinnen ihre theoretischen Überlegungen zu Zukunft und Zeit dar. Darin lässt sie ihre jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Feld Revue passieren und plädiert für einen bewussteren Umgang mit Zeitlichkeit anhand des Begriffes „timescape“. Aus der in diesem Begriff aufgehobenen Verschränkung zwischen Raum, Zeit und Materie folgert Adam vier irreduzible Eigenschaften von Zeit. Zeiträume etwa seien gewählt und bestimmten, was für einen Menschen sichtbar werde. Zweitens sei die Zeitlichkeit das differenzierende Element, welches Veränderungsprozesse wie Wandel, Altern oder Wachsen beschreibbar mache. Als dritte Eigenschaft nennt Adam das Tempo, das anzeige, wie viel Aktivität in einem bestimmten Zeitrahmen geplant oder möglich sei. Und schließlich sei es das „timing“, welches eine soziale Synchronisierung, Koordination und Fragen über richtige und falsche Zeitpunkte umfasse (S. 120f.). Adams Aufforderung, sich der Auffassungen und Annahmen über die Entität Zukunft gewahr zu werden, scheint im Hinblick auf ihre diesbezügliche Konzeptionalisierung aufschlussreich: Wird Zukunft hierbei als Sphäre des Geistes, der Vorstellung oder der Sprache begriffen? Oder vielmehr als Sphäre der Freiheit, der Wahl, der Absicht und der Instrumentalität (S. 123)? Abschliessend argumentiert Adam für einen geschärften Blick auf die Bedingungen sozialen Wandels: „the seeds of change have to be gathered, sown, and tended at every level of analysis“ (S. 130).

Die Beiträge im dritten Teil zu „Futures As Salvation and Apocalypse“ erweitern das Blickfeld um Perspektiven, die in der historischen Zukunftsforschung bisher eher randständig waren. Den Fokus auf Endzeit nimmt Mohamed-Ali Adroaoui auf, der den Erlösungsglauben und die Gewalt- und Expansionspolitik des „Islamischen Staates“ in Verbindung setzt. Im jihadistischen Schriftgut aus dem Umfeld der Miliz erkennt er eine Mischung aus zyklischer Geschichtsauffassung (Rückkehr des Kalifats) und apokalyptischer Eschatologie (Ende der irdischen Zeit), die er als „offensive millenarianism“ (S. 303) versteht. Laura Pereira et al. versuchen sich an einer Neuperspektivierung des Anthropozändiskurses am Beispiel von „African Science Fiction“. Ausgehend von dem Einfluss populärer Hollywoodproduktionen („District 9“, „Black Panther“) wird die Zukunft Afrikas und die Rolle Afrikas für die Zukunft des Planeten in der zeitgenössischen Science-Fiction-Literatur des Kontinents nachverfolgt. Deutlich wird in der Textanalyse die Kopplung ökologischer und dekolonialer Bezüge, wodurch Afrika zum genuinen Zentrum der Bewusstwerdung und „Lösung“ des Anthropozäns gemacht wird. Arjun Appadurai nimmt in einem erhellenden Kapitel das Zukunftsverständnis von Silicon-Valley-Eliten in den Blick. Die dort seit einigen Jahrzehnten gepflegte Kultur des produktiven Scheiterns sieht Appadurai als Gegenstück einer auf Disruption setzenden Innovationspolitik in den App-basierten „winner takes all markets“ (S. 283). Unter diesen Bedingungen ständiger digitaler Erschließung werde die Zukunft letztlich selbst verengt und passfähig auf Marktinteressen gemacht.

Der Titel „Futures of Life“ des Buchteiles, der den Fokus auf den menschlichen Körper legt, umschreibt die ersten drei Beiträge treffend: Themenfelder wie Posthumanismus, Transhumanismus oder die Frage, wo die Grenzen menschlicher Biologie liegen, stehen dabei im Fokus. Bei genauerer Betrachtung wäre indes präziser von der Konstruktion zukünftigen Lebens durch technologische, biologische und andere antizipierende Praktiken die Rede. In diesem Rahmen beschreibt Apolline Taillandier, wie die Zukunft des menschlichen Lebens in transhumanistischen Vorstellungen dargestellt wurde, etwa in einschlägigen Magazinen oder Online-Diskussionen, um dabei eine libertäre, liberale und konservative Variante herauszuarbeiten. Ihre Erkenntnis, dass Visionen menschlicher Zukunft am Rande einer neuen Evolutionsstufe individuelle Wege zur körperlichen Transformation und kollektiven Auffassungen vom guten Leben initiieren, erscheint so interessant wie provokativ. Die beiden Beiträge von Julia Nordblad und Liliana Doganova thematisieren sodann das framing zukünftiger Generationen und deren Einfluss auf die Gewichtung von gegenwärtigen oder künftigen Interessen. Doganova resümiert, dass das Problem darin liege, wo die Linie zwischen Gegenwart und Zukunft verlaufe und wie diese beiden Pole „balanciert“ werden (S. 392).

Im letzten Abschnitt zu „Future Worlds“ wird nochmals eine Vielzahl an empirischen Kurzeinblicken präsentiert, die teilweise recht unverbunden nebeneinanderstehen. Bereits gut untersucht und thematisch naheliegend sind die Beiträge zur Geschichte von Szenarienplanung, Kybernetik und Atomwaffen oder zu gegenwärtigen Zukunftsorientierungen in globalen Organisationen. Origineller ist das Kapitel von S.M. Amadae, das die Interpretation des biologischen Lebens als Algorithmus ähnlich bei Richard Dawkins und Max Tegmark nachverfolgt. Insbesondere bei letzterem arbeitet sie heraus, wie von der konstruierten Analogie von Gehirn und Computer wieder auf eine vermeintliche Notwendigkeit zurückgeschlossen wird, künstliche Intelligenz zur Weiterentwicklung der Menschheit einzusetzen. Ein solches Bewusstseinsverständnis, so Amadae, „misses the power of the human mind to invest experiences with meaning” (S. 483).

Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Band als Einführungs- und Überblickwerk gut funktioniert. Leser:innen, die einen Einblick in das internationale Forschungsfeld zu Zukünften suchen, werden fündig, zumal in den Beiträgen breit zitiert und weiterführende Literatur empfohlen wird. Sowohl empirisch als auch methodisch-theoretisch wird ein Panorama aufgespannt, das zwar selten wirklich zueinander in Bezug gesetzt wird, aber dafür eine enorme Bandbreite an Zugängen und Beispielen abdeckt. Die Dezentrierung der Zukunftsforschung in Richtung des Globalen Südens und hin zu eher literarischen und medialen Gattungen ist zu loben, hätte aber noch stärker vergleichend angelegt und von der „Peripherie“ her gedacht werden können. Der Anspruch der Herausgeberinnen, den Gegenstand ausgehend von Praktiken zu verstehen und dabei nach der Vermachtung von Zukunft zu fragen, wird zwar nicht in allen Beiträgen eingelöst. Der Band ist aber besonders dort stark, wo Zukunft nicht im vagen Raum von „Diskursen“ verhandelt, sondern an Akteur:innen und Interessen zurückgebunden wird. Das gilt vor allem für die recht zahlreich vertretenen historischen Artikel, die sich allesamt gut als Einstiegspunkte in die jeweiligen Forschungsfelder anbieten. Die relative Kürze der Texte und die große Anzahl an Beiträgen begrenzen den fachlichen Nutzen des Bandes jedoch etwas, denn nur selten gehen Empirie und Argumente wirklich in die Tiefe.

Anmerkung:
1 Siehe beispielhaft folgende Standardwerke: Elke Seefried, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung, 1945–1980, Berlin 2015; Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, 2., überarb. Aufl. Göttingen 2016 (1. Aufl. 1999); Joachim Radkau, Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, München 2017; Jenny Andersson, The Future of the World. Futurology, Futurists, and the Struggle for the Post-Cold War Imagination, Oxford 2018.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/